Zusammenfassung
Die Corestory ist die DNA, aus der sich die Organisation in die Zukunft erzählt und transformiert. Sie ist im optimalen Fall der Bienentanz einer Organisation, um komplexe Informationen zu integrieren und für alle Teilnehmenden die bestmögliche Zukunft zu erzählen. Der Autor beschreibt mithilfe von chronologisch geordneten Notizen, wie mit der Entwicklung einer Corestory die Zukunftskraft einer traditionsreichen Organisation im Zuge einer strategischen Neuausrichtung wieder ins Fließen kam.
Die Vorgeschichte
Im August des Jahres 2020 trat Roger auf mich zu und fragte, ob ich Interesse hätte, im Rahmen einer Strategieentwicklung in einer Schweizer Stiftung die Kommunikationsarchitektur für die Umsetzung der strategischen Maßnahmen zu erarbeiten. In anderen Worten, es ging darum, Strategien so zu übersetzen und zu kommunizieren, dass Führungsverantwortliche und Mitarbeitende nicht nur verstanden, in welche Richtung es gehen sollte, sondern auch wussten, wie die Zielvorgaben genau zu erreichen waren.
Roger war der Kommunikationschef einer großen philanthropischen Stiftung. Besagte Stiftung befand sich gerade in einem Transformationsprozess. Die Globalisierung und Digitalisierung hatten die Art der unterstützten Projekte über die Jahre hinweg zuerst nur schleichend und dann immer schneller verändert. Die Bedürfnisse der Zielgruppen waren nicht mehr die gleichen wie noch vor 15 Jahren. Mit der strategischen Neuausrichtung sollte eine zeitgemäße Positionierung erreicht, unnötiger Ballast abgeworfen und – last but not least – die Refinanzierung der Stiftung sichergestellt werden. Kurz: Es ging darum, sich selbst neu zu erfinden, ohne den Raison d’Être der Stiftung aus den Augen zu verlieren.
Die folgenden chronologischen Schilderungen sind Notizen aus dem gemeinsamen Arbeitsprozess mit Roger von Phase 1, welcher eine Zeitspanne von ca. drei Monaten abbildet. Alle Namen, Funktionen und Bezeichnungen wurden anonymisiert.
Der Tanz der Bienen
13.3.2020
Erstes Zoom-Treffen. Roger möchte den kommenden Strategieprozess von Anfang an mit narrativen Maßnahmen sehr eng begleiten und sicherstellen, dass alle Mitarbeitenden verstehen, was mit der Strategie erreicht werden soll und was von ihnen konkret erwartet wird.Ich schlage Roger vor, eine Changearchitektur in drei aufeinander aufbauenden Phasen auszuarbeiten, welche den Prozess mit unterschiedlichen Interventionen und Maßnahmen optimal begleiten und stützen.
Phase 1: Für die Führungsverantwortlichen sollten die nötigen (Erzähl-)Räume geöffnet werden, um in einem partizipativen Prozess ein gemeinsames Verständnis für die geplanten Strategien und ihre Bedeutung zu gewinnen.
Phase 2: In mehreren Erzählworkshops würden wir das Erfahrungswissen von Mitarbeitenden und Führungskräften zu früheren Strategieumsetzungen heben. Gleichzeitig würde eine Kulturanalyse mit narrativen Interviews Klarheit darüber schaffen, wo Veränderungsprozesse bislang durch unbewusste Verhaltensweisen („Bei uns macht man das eben so“) oder versteckte Regeln blockiert oder gar sabotiert wurden.
Phase 3: Schließlich sollten die wichtigsten Erkenntnisse gebündelt und das gehobene Erfahrungswissen in Form von kuratierten Geschichten und Erzählungen wieder in das System eingespeist und für alle Mitarbeitenden in der Stiftung verfügbar gemacht werden. In Phase 3 sollten die geplanten Strategien erstmals auch in griffige Metaphern und Bilder übersetzt werden.
Zusammengefasst: Phase 1 sollte bei den Führungsverantwortlichen Klarheit und ein gemeinsames Verständnis für die Strategie schaffen, Phase 2 sollte konkretes Umsetzungswissen extrahieren und versteckte Changeblockaden lokalisieren, und Phase 3 sollte alle Erkenntnisse breit kommunizieren und die Strategieumsetzung mit konkreten Geschichten begleiten.
Ich erzähle Roger zum besseren Verständnis die Bienenmetapher: Wenn die Königin Ende Frühling spürt, dass im Stock ein Ungleichgewicht zwischen verfügbaren Ressourcen und Bienenpopulation entsteht, schickt sie Kundschafter aus, um neue Lebensräume zu entdecken. Die Kundschafterbienen kehren anschließend mit konkreten Vorschlägen zurück und „erzählen“ der Gemeinschaft in speziellen Tänzen, was sie gesehen und erfahren haben. Welcher Standort der optimale ist, wird schließlich in einem komplexen Prozess vom ganzen Volk gemeinsam „ausgetanzt“. Ist die Entscheidung gefallen und alle Perspektiven integriert, gibt die Königin den Startschuss und schwärmt aus (Seeley, 2010). Roger lacht und meint, die Stiftungsratspräsidentin hätte keinesfalls vor, den Stock zu verlassen, geschweige denn die Mitarbeitenden tanzen zu lassen. Ihm sei das Bild aber soweit klar: Es ginge darum, möglichst viele Perspektiven und Erfahrungen an den Tisch zu holen, um für die Strategieumsetzung unter den verfügbaren Optionen die optimale Stoßrichtung auszuwählen.
20.3.2020
Ich stelle Roger die ausgearbeitete Changearchitektur vor. Der Auftakt der Phase 1 sollte die Entwicklung einer Corestory mit der erweiterten Geschäftsleitung und allen Teamleitern bilden. Ich versuche Roger davon zu überzeugen, dass es von entscheidender Bedeutung sei, bereits relativ früh im Prozess größtmögliche Einigkeit und Klarheit bei den Führungsverantwortlichen zu schaffen. Das Erarbeiten einer gemeinsamen Corestory sollte in unserem Falle sicherstellen, dass sich alle darauf einigen konnten, wer sie waren (oder werden wollten), was sie wie mit wem taten, um schlussendlich das große Ziel, den Zweck des Unternehmens (das Warum) zu erreichen.
Auf den ersten Blick mag die Corestory simpel erscheinen. Das ist sie nicht. Wer schon einmal mit einer Gruppe von 15 Leuten vor einem Whiteboard stand und um jedes Wort und jede Bedeutung in den formulierten Aussagen ringen musste, weiß, wie anspruchsvoll der Prozess tatsächlich ist. Für mich ist er tatsächlich vergleichbar mit dem Schwarmtanz der Bienen, in dem der größtmögliche Konsens aller „gesammelten“ Perspektiven gemeinsam modelliert wird.
Aus einem solchen Prozess entsteht mit der Corestory nicht nur ein konkretes Artefakt, welches das Fundament der Changearchitektur und der begleitenden Kommunikationsmaßnahmen bildet, sondern es entfaltet sich auch starke Wirkung im Kulturraum einer Organisation. Wo Menschen eingeladen sind, Erfahrungen zu teilen und gemeinsam Bedeutung zu schaffen, fühlen sie sich gehört und wahrgenommen. Die Teilhabe an solchen Prozessen bedeutet auch Teilhabe am Ergebnis. Je mehr Tänzer und Perspektiven ich in solchen Prozessen zulasse, desto stärker entfaltet sich die Wirkung in der gesamten Organisation. Es ist der gemeinsame Formulierungsprozess, der sinnstiftend ist.
Roger ist überzeugt und teilt mir mit, er werde sich dafür einsetzen, dass die Entwicklung der Corestory gleich als Startschuss und fulminanter Auftakt des Changeprozesses eingeplant wird. Es fehle der Stiftung nämlich tatsächlich eine griffige Geschichte, die alles zusammenhält. Ich gebe zu bedenken, dass die Corestory selten in dem Sinne griffig sei, wie sich das Kommunikationsexperten vielleicht gerne wünschten. Oft sind es stilistisch unschöne Schlangensätze, die eher einer Formel als einem geschliffenen Slogan gleichen. Seine Frage, ob sich daraus eine „echte“ Geschichte oder ein Slogan bauen lasse, bejahe ich zurückhaltend.
3.4.2020
Roger teilt mir mit, dass die skizzierten Maßnahmen der Changearchitektur vom Stiftungsrat und der Geschäftsleitung angenommen wurden. Die Stiftungsratspräsidentin und der Geschäftsführer hätten jedoch den Wunsch geäußert, die Corestory vorerst nur mit der internen Kommunikationsabteilung zu entwickeln. Die Führungsverantwortlichen an den unterschiedlichen Standorten sollten nicht involviert werden. Roger fragt mich etwas verlegen, ob die Entwicklung einer Corestory unter diesen Parametern überhaupt noch möglich sei. Man wolle unbedingt einen Konflikt vermeiden, da nicht alle Führungskräfte sich gleich stark für eine Veränderung einsetzten. Ich betone, dass der Wert einer Corestory tatsächlich in der Integration unterschiedlicher Perspektiven und im Erarbeiten einer gemeinsamen Bedeutung läge. Je weniger Menschen an diesem Prozess beteiligt würden, desto monoperspektivischer falle auch das Ergebnis aus. Roger versteht. An der Entscheidung lasse sich trotzdem nichts mehr ändern.
Nach dem Zoom-Meeting lasse ich das Gespräch nochmals Revue passieren. Folgende Fragen stellen sich mir: Lohnt sich die Entwicklung einer Corestory, wenn nur drei Personen daran beteiligt sind? In welchem Maße würde die geplante Changearchitektur mit den drei skizzierten Phasen davon beeinflusst werden? Warum hatten die Stiftungsratspräsidentin und der Geschäftsführer die Teilnehmerzahl so drastisch beschränkt? War es die Angst vor einem allzu offenen partizipativen Prozess und dem vielleicht drohenden Deutungs- und Kontrollverlust innerhalb der Organisation?
8.4.2020
Zoom-Treffen mit Roger. Trotz der Fragen, die ungeklärt über uns schweben und unser Handeln mit beeinflussen, wollen wir weitermachen: Wir beschließen, die Corestory wie von der Stiftungsratspräsidentin und dem Geschäftsführer gewünscht durchzuführen. Wir besprechen nochmals den genauen Ablauf des Workshops und das Framing ganz zu Beginn, um die Erwartungshaltung der Teilnehmenden gut abzuholen. Wichtig scheint uns beiden, nochmals explizit zu erwähnen, dass die zu entwickelnde Corestory keiner ausgefeilten Geschichte oder gar einem eingängigen Slogan ähneln würde. Sie sei eher eine funktionale Blaupause, mit der alle zukünftigen Kommunikationsmittel der Stiftung abgeglichen und geprüft werden könnten. Die Corestory wäre bildlich gesprochen die Informations-DNA, nach der sich die Organisation in die Zukunft bauen und organisieren würde.
23.4.2020
Gemeinsames Telefonat mit Roger. Er ist besorgt. Der bevorstehende Strategieprozess hat in der Stiftung bereits für Unruhe gesorgt. Er möchte nun auf jeden Fall verhindern, dass während der Entwicklung der Corestory Ungeklärtes und für die Teilnehmenden vielleicht auch Unangenehmes auf den Tisch kommt. Er schlägt vor, die Suchfrage für die Erzählrunde, welche die Teilnehmenden narrativ aufwärmen und für die Entwicklung der Corestory vorbereiten soll, so zu verändern, dass die Teilnehmenden nach einer positiven Erfahrung gefragt werden. Aus der Suchfrage „Erinnert euch an ein konkretes Erlebnis, das ganz typisch für eure Zusammenarbeit in der Stiftung ist?“ soll nun eine Suchfrage im Sinne von „Welche positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit im Führungsteam der Stiftung sind euch in Erinnerung geblieben?“ werden. Ich kann Rogers Anliegen verstehen. Ein Transformationsprozess weckt Unruhe und fördert versteckte Spannungen zutage. Für den Organisationsberater sind das wichtige Sollbruchstellen, an denen sich Spannungen entladen sollen und dürfen. Für Führungsverantwortliche sind es Störfälle, die den reibungslosen Betrieb beeinträchtigen und die es tunlichst zu vermeiden gilt.
Rogers Anliegen, den Teilnehmenden im Workshop ein möglichst erfolgreiches Erlebnis mit einem handfesten Endprodukt zu ermöglichen, ist also nachvollziehbar. Wer möchte das Neue schon gerne mit einer Störung beginnen? Die Krux liegt jedoch in der Definition von Erfolg. Aus Sicht des Organisationsberaters heißt Erfolg, wenn sich im Prozess alles manifestieren darf, was in der Organisation tatsächlich da ist. Dazu gehören auch Meinungsverschiedenheiten und das gemeinsame Ringen um Klärung und Bedeutung. Auf diesem Weg vorauseilend alle Unebenheiten bereits zu planieren und Irritationen aus dem Weg zu räumen, ist nicht im Interesse des Kunden. Am Schluss ist es Roger selbst, der die Verantwortung für das Ergebnis von sich aus abgibt. Die Teilnehmenden seien schließlich alt genug, auch mit Ungereimtheiten umgehen zu können. Unsere Aufgabe sei lediglich, den Prozess zu begleiten, nicht das Ergebnis schon vorwegzunehmen. Rogers freiwilliges Einlenken werte ich als Erfolg unserer sorgfältigen Planung und der Sinnhaftigkeit der narrativen Arbeit an und für sich.
2.5.2020
Roger und ich besprechen den Ablauf des Workshops. Wir erörtern nochmals, wie wir für die Teilnehmenden die Minierzählrunde gestalten wollen. Bedingt durch die Coronasicherheitsmaßnahmen findet der Workshop ausschließlich virtuell statt. Anstatt eines Flipcharts verwenden wir nun eine digitale Canvas (bspw. Miro, Boards, Mural etc.), um die Erfahrungen der Teilnehmenden in Stichworten zu erfassen.
Unser Workshopprogramm sieht nun folgendermaßen aus:
Begrüßung und Framing
Erzählrunde mit Suchfrage
Entwicklung der Corestory
Ausblick nächste Schritte
Eine Herausforderung ist für uns der Umstand, dass der ganze Workshop nun nicht wie geplant drei Stunden dauern darf, sondern wir insgesamt nur noch zwei Stunden für den Prozess zur Verfügung haben. Die Frage nach der Relevanz des Prozesses scheint in der Organisation noch nicht wirklich geklärt zu sein. Ich beschließe, die Aufwärmrunde etwas zu kürzen.
12. Mai 2020
Der große Tag, auf den wir alle so lange hingearbeitet haben, ist da. Der Workshop beginnt pünktlich um 14 Uhr auf Zoom. Aktiv am Prozess beteiligt sind nun insgesamt vier Personen: die Stiftungsratspräsidentin, der Geschäftsführer, die Abteilungsleiterin Marketing und die Abteilungsleiterin Fundraising. Roger und ich moderieren abwechselnd, während der andere jeweils Notizen auf dem digitalen Flipchart macht. Ich weise in der Erzählrunde nochmals explizit darauf hin, dass wir konkrete Erfahrungen suchen (Zeit, Ort, Personen, Interaktionen etc.) und stelle dann die Suchfrage: „Erinnert euch an ein konkretes Erlebnis, das ganz typisch für eure Zusammenarbeit in der Stiftung ist!“
Die Teilnehmenden überlegen eine Minute und beginnen dann nacheinander zu erzählen. Wie erhofft, sind es ausschließlich konkrete Erfahrungsgeschichten und keine generischen Beschreibungen der Zusammenarbeit (… „wir sind kreativ, wohlwollend“ etc.). Entgegen Rogers anfänglicher Befürchtung kommen keine Konflikte auf den Tisch. Im Gegenteil: Der offene Austausch von Erfahrungen kreiert ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung und des Wohlwollens.
Aufgewärmt und mit einer gemeinsam erarbeiteten Vorstellung der Zusammenarbeit, starten wir dann in die Corestory.Auf dem digitalen Flipchart (siehe Abb. 8.1) wird in drei Textboxen jeweils nach einer Identitäts-, Wirk- und Transformationsformel gefragt (vgl. Erlach & Müller, 2020, S. 135 ff.):(A) Wir sind/wir wollen sein … (Identität)(T) die Folgendes tut … (Handeln/Transformation)(E) um/mit dem Ziel … (Ziel)
Nachdem das erste Eis gebrochen ist, beginnen die Teilnehmenden, um die richtigen Begriffe, Formulierungen und Aktivierungen zu ringen. Wer sind wir überhaupt? Wie würden wir uns selbst beschreiben? Was tun wir genau und für wen? Was ist unser Ziel? Roger schreibt die von den Teilnehmenden geäußerten Gedanken und Formulierungen sofort in die entsprechenden Textboxen. Nach und nach entsteht ein Gewirr aus Formulierungen, die noch nicht recht zusammenpassen wollen. Manchmal springt der Fokus plötzlich von einer Textbox auf eine andere, weil eine spezielle Formulierung in der Sektion „Wir sind“ sofort Auswirkungen auf das „Um …“, also auf das Ziel, hat. Meine Rolle als Moderator ist dabei, immer wieder Fragen zu stellen, verschiedene Sätze zu kombinieren und Formulierungen auch zu hinterfragen, wenn sie allzu generisch und beliebig werden.
Wie bereits in der Erzählrunde beobachtet, kommen auch dieses Mal keine eigentlichen Konflikte auf den Tisch. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht um Formulierungen engagiert und leidenschaftlich gerungen wird.
Nach ca. 90 Minuten stehen tatsächlich drei lange Schlangensätze in den jeweiligen Textboxen. Die Teilnehmenden wirken angenehm erschöpft, als hätten sie alle zusammen an einem Marathon teilgenommen und wären auch alle gemeinsam über die Ziellinie gelaufen. Roger und ich verabschieden die Teilnehmenden in den wohlverdienten Feierabend.following the successful kickoff.
13. Mai 2020
Mit einem Tag Abstand blicke ich auf den Workshop zurück und bin mit dem Ausgang immer noch sehr zufrieden. Narrative Interventionen funktionieren so gut, weil ihre Wirkung aus dem Prozess selbst kommt. Die Teilnehmenden bestimmen das „Ergebnis“ dieses Prozesses und übernehmen dafür auch gemeinsam Verantwortung. Meine Rolle als Organisationsberater ist, diesen Prozess zu initiieren, unterstützend zu begleiten und ihn möglichst nicht kompromittieren zu lassen, also das eigene Vertrauen in den Prozess hoch und stark zu halten. Roger berichtet mir im Nachgang, dass die Teilnehmenden noch immer begeistert seien. Jeder hätte tatsächlich das starke Gefühl gehabt, an etwas substanziell Wichtigem mitgearbeitet und seine eigene Perspektive in die DNA der Stiftung mit eingeschrieben zu haben. Auch wäre die Angst, Deutungshoheit über Strategie und Ausrichtung der Stiftung an andere Teilnehmende (bspw. Mitarbeitende) zu verlieren, fast völlig verschwunden.
Wir besprechen die nächsten Schritte, um nach dem erfolgreichen Auftakt Phase 2 und 3 des Transformationsprozesses einzuleiten.
Corestory & Co. – einige zusätzliche Gedanken
Für die Organisationsberater und Kommunikationsdesigner unter den Lesern möchte ich gerne noch etwas genauer auf die Corestory, den Purpose und einige andere Kommunikationsartefakte von Organisationen eingehen, um sie besser voneinander abzugrenzen, respektive sie bezüglich Bedeutung und Wirkung in die richtige verwandtschaftliche Beziehung zueinander zu setzen.
Die Corestory unterscheidet sich für mich in wesentlichen Aspekten von Purposeformulierungen:
Die Corestory ist aufgrund der narrativen Grundstruktur (A–T–E) primär eine Transformationsgeschichte mit starkem Zug in die Zukunft. Sie ist im Vergleich zu Purposeformulierungen selten eine statische (Wunsch-)Beschreibung und Momentaufnahme von Wirklichkeit und Wirkung. Die Corestory erzählt eben nicht nur den Zweck des Unternehmens, sie erzählt auch ganz stark, wer die Organisation sein will und wer sie werden muss.
Wiewohl die Corestory oft die stilistische Eleganz und Kürze eines Purpose vermissen lässt, ist sie im Innern einer Organisation doch um ein Vielfaches wirksamer und transformativer. Gerade weil sie das Ergebnis eines gemeinsamen Bedeutungsfindungsprozesses ist, in welchem die Perspektiven unterschiedlichster Stakeholder zu einer sinnstiftenden Formel der Verwandlung verschmelzen, wirkt sie ähnlich wie die DNA in einem Zellkern: Sie baut und steuert die Organisation aus dem Kern heraus – aus einer Tiefe, die klassischen Purposeformulierungen sehr oft verschlossen bleibt.
Ich beobachte häufig, dass Purposeformulierungen in einer Organisation regelmäßig die Form eines wohlklingenden Mantras annehmen, welches dann über die ständige Wiederholung eine möglichst starke sinnstiftende Wirkung entfalten soll. Solche Ideologisierungstendenzen über sinn- und identitätsstiftende Wahlsprüche sind in Organisationen nicht neu. Sie führen meiner Meinung nach aber praktisch nie zum gewünschten Erfolg. Ideologisierungen stärken Organisationen mittel- und langfristig nicht, sondern lassen sie im Gegenteil erstarren und brüchig werden. Die oft sperrige Corestory läuft weniger leicht Gefahr, derart instrumentalisiert zu werden, als der Purpose aufgrund seiner stilisierten Formulierung.
Bedenklich finde ich in diesem Zusammenhang auch, dass Purposeformulierungen immer häufiger von spezialisierten Agenturen „angeliefert“, also von außen in die Organisation eingeführt und in klassischer Top-down-Manier kommuniziert werden. Wie bei der Corestory auch, entfalten Purposeformulierungen jedoch immer dann die größte Wirkung, wenn sie von Mitarbeitenden und Führungsverantwortlichen gemeinsam entwickelt werden. Dass ein solcher Prozess ohne Weiteres auch mal Monate in Anspruch nehmen kann, liegt in der Natur der Sache. Es lohnt sich jedoch. Corestory und Purpose sind meines Erachtens stark prozessorientierte Kommunikationsinstrumente. Sie entfalten wirklich nur dann ihr Potenzial, wenn sie möglichst partizipativ entwickelt und „gefühlt“ werden können. Ist das nicht der Fall, besteht die Gefahr, mit der Purposeformulierung oder der Corestory dem Kaiser einfach ein neues Kleid zu schneidern.
Die starke identitätsstiftende Verbindung der Corestory in der Vergangenheit, ihr starker Zug in die Zukunft und der gemeinsame Prozess des Klärens und Formulierens machen die Corestory für Organisationsentwickler zu einem relevanten Instrument, um Change- und Strategieprozesse sicher begleiten, übersetzen und mit einem hohen Grad an Orientierung kommunizieren zu können.
Die besondere Rolle und Kraft einer Corestory lässt sich auch daran erkennen, dass sich aus ihr jederzeit der Purpose, die Vision, die Mission, das Why (nach Simon Sinek, 2011) oder die Value Proposition ableiten und weiterentwickeln lassen. Das Umgekehrte ist nicht immer zwingend der Fall.
Die Wirk- und Bedeutungsdimensionen einer Corestory im Vergleich zu anderen Kommunikationsartefakten lassen sich vielleicht noch etwas besser verstehen, wenn wir sie in ein räumliches Koordinatensystem übertragen (siehe Abb. 8.2), das über mindestens drei Dimensionen verfügt:
Achse 1: Vergangenheit – Zukunft. Diese Dimension bildet ab, inwiefern die Kommunikationsartefakte auch auf das Vergangene (bspw. die Herkunft der Organisation) referenzieren. Organisationen, die die eigene Vergangenheit integrieren und neu erzählen, können daraus kohärenter Zukunft bauen als solche, die in der Momentaufnahme eines Wunsches oder eines Zielbildes stecken. Die differenzierende Handlung auf Achse 1 ist Erfahrung integrieren (Vergangenheit) oder Erfahrung projizieren (Zukunft).
Achse 2: Innenwirkung – Außenwirkung. Diese Dimension visualisiert, ob die Kommunikation primär im Innern wirksam werden soll, um bspw. Führungskräfte und Mitarbeitende zu orientieren und deren Handlungen zu synchronisieren und rhythmisieren, oder ob die Kommunikation im Außen wirksam werden muss, um Kunden und Partner zu informieren und dadurch ein von der Organisation gewünschtes Verhalten hervorzurufen. Auf Achse 2 wird als differenzierende Handlung entweder orientiert (innen) oder positioniert (außen).
Achse 3: Transformation – Konservation. Diese Dimension zeigt uns, inwiefern sich die Organisation selbst verändern und wandeln muss, um zu der Entität zu werden, die die gewünschte Zukunft realisieren kann. Die differenzierende Handlung auf Achse 3 ist regulieren (Konservation) oder (um)wandeln (Transformation).
Abbildung 8.2 soll das Zusammenspiel der Dimensionen anhand eines ganz konkreten Beispiels demonstrieren. Es orientiert sich an den im Internet verfügbaren Kommunikationsartefakten von Zalando (Stand Frühling 2021, https://corporate.zalando.com/en/company/our-corporate-culture). Meine Wahl fiel auf Zalando, weil die Kommunikationsartefakte dieses Unternehmens relativ gut dokumentiert und für die breite Bevölkerung einfach zugänglich sind. Einzig die Corestory wurde von mir in einem Reverse-Engineering-Prozess rekonstruiert. In dieser oder in einer leicht modifizierten Form dürfte sie tatsächlich im genannten Unternehmen existieren.
Betrachten wir nun das Gesamtbild, können wir die Ableitungen und Weiterentwicklungen der einzelnen Kommunikate schön erkennen. Zugegeben: Sprache ist immer auch ein Graubereich. Meine Zuordnungen der Kommunikate könnten durchaus auch anders aussehen. Interessant ist für mich jedoch nicht zwingend die exakte Verortung der Artefakte, sondern ihre Abhängigkeiten und Verbindungen mit- und untereinander. Hier ergeben sich für den aufmerksamen Betrachter wertvolle Rückschlüsse, wo und wie die unterschiedlichen Kommunikationsinstrumente eingesetzt werden können.
Spannend ist für mich als Organisationsberater die Achse „Transformieren – Konservieren“. Hier offenbart sich das eigentliche Potenzial der Corestory. Indem sie auf der Achse 1 Vergangenheit und (Wunsch-)Zukunft miteinander verbindet, entfaltet sie gleichzeitig transformative Wirkkraft. Diese ist vorerst auf die interne Kommunikation beschränkt, denn die Corestory ist, wie bereits mehrfach erwähnt, kein Slogan für die Kommunikation nach außen. Wie aus einer Quelle heraus lassen sich aber aus ihr alle weiteren Kommunikate ableiten und weiterentwickeln. In die Vergangenheit greifen heißt übrigens nichts anderes, als gemachte Erfahrungen zu integrieren und daraus in die Zukunft mögliche neue Erfahrungen zu projizieren.
Im Gegensatz dazu wirkt der Purpose im abgebildeten Beispiel sowohl im Innern wie im Äußeren. Ihm fehlt aber aufgrund seiner Formulierung, wie auch in der Abbildung deutlich sichtbar, die Verbindung in die Vergangenheit. Es werden keine Erfahrungen integriert. Es ist deshalb auch schwierig, allein aus dem formulierten Purpose von Zalando auf eine mögliche oder notwendige Transformation des Unternehmens selbst zu schließen. „Reimagining fashion for the good of all“ erzählt uns primär eine Geschichte über den Kunden und das, was mit ihm (hoffentlich zum Besseren) geschieht oder geschehen soll. Wir dürfen aber annehmen, dass „for the good of all“ natürlich auch das wirtschaftliche Wohl des Unternehmens selbst meint.
Die Purposeformulierung von Zalando ist, nebenbei bemerkt, auch ein schönes Beispiel für jene Beobachtungen, die weiter oben zu wohlklingenden Mantras und möglichen Ideologisierungstendenzen beschrieben wurden.
Die formulierte Vision verfügt gegenüber dem Purpose tatsächlich über erste zarte Andeutungen von Vergangenheit. Das „We“ signalisiert überdies erstmals auch eine noch nicht genauer umrissene Identität und die Formulierung „strive to become“ bedeutet, dass „wir noch nicht diejenigen geworden sind, die wir gerne sein möchten“.
Die Formulierung der Mission richtet sich im obigen Beispiel ganz klar an Mitarbeitende und soll auf einer funktionalen Ebene Handlungen koordinieren und rhythmisieren („we operate“). Die Missionformulierung besitzt im Vergleich zur Vision (oder zur Corestory) auch eher eine regulierende Wirkung, aber mit sehr starkem Zug in die Zukunft. Die Aussage „wir wollen Marktführer werden“ ist eine Zielvorgabe, kein Transformationsversprechen (siehe Abb. 8.3).
Fazit
Die Corestory ist wirklich der Core, der Kern, die DNA, aus der sich die Organisation in die Zukunft erzählt und transformiert. Sie ist im optimalen Fall der Bienentanz einer Organisation, um komplexe Informationen zu integrieren und für alle Teilnehmenden die bestmögliche Zukunft zu erzählen. Als Organisationsberater steht sie für mich am Anfang jedes Strategie- und Veränderungsprozesses. Je mehr Mitarbeitende eingeladen werden, diese Kerngeschichte zu „schreiben“, desto orientierender, koordinierender und rhythmisierender wirkt sie auf die gesamte Organisation.
Narrative Organisationsentwicklung
Ein Arbeitsbuch in Fallbeispielen
herausgegeben von: Christine Erlach, Michael Müller
Verlag: Springer Berlin Heidelberg
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